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09 2016
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Das munizipalistische Manifest

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Dieser Text greift einige Diskussionsstränge der Workshops und Arbeitsgruppen auf, an denen anlässlich der Ersten Tagung zu Munizipalismus, Selbstverwaltung und Gegenmacht vom 1. bis 3. Juli 2016 in Málaga mehr als 200 Menschen aus 30 spanischen Städten und aus anderen Ländern wie Italien, England, Österreich und Deutschland teilnahmen. Er soll weniger dazu dienen, alles auf der Tagung Gesagte zusammenzufassen, als gemeinsame Positionen zu versammeln, die uns Fugen im Bau der munizipalistischen Bewegung denken lassen.


Die munizipalistische Bewegung und die Frage der Organisation

1. Die munizipalistische Bewegung erhebt Anspruch auf ihre Autonomie von jeder Partei und jeder zentralisierten Instanz, auf ihre Methode  des demokratischen Aufbaus und ihre Wurzeln in den Städten und Gemeinden, in denen die munizipalistischen Initiativen entstanden sind.

2. Die munizipalistischen Wahllisten und Bewegungen wollen allerdings eine Politik der unterschiedlichen Allianzen schmieden, die fähig ist, die zentralen Konflikte zu begleiten, die die kommunale Ebene durchziehen: den Widerstand gegen das Gesetz zur Haushaltsstabilität – die Ley Montoro –, die Wohnungsnot, die Verschuldung der Kommunen und die Remunizipalisierung der öffentlichen und gemeinsamen Dienstleistungen wie die Wasserversorgung oder die Schaffung neuer munizipaler Dienstleistungen etwa zur Stromversorgung.

3. Ein wünschenswerter Horizont könnte in der Artikulation eines Netzwerks der Wahllisten und Bewegungen bestehen. Um dieses verbündete Netzwerk aufzubauen, empfiehlt sich die Förderung autonomer und die Schaffung neuer Kommunikationsmittel, die in der Lage sind, diese Prozesse zu begleiten, die öffentliche Agenda zu prägen und Diskurse für einen neuen sozialen Gemeinsinn zu generieren.

4. Der Munizipalismus gründet auch darauf, Ressourcen für ein neues Ökosystem der Bewegungen und der institutionellen Experimente zur Verfügung zu stellen, eine neue Institutionalität, die aus den Institutionen heraus mitbetrieben wird, während die autonome Agenda der Bewegungen ihrerseits bewahrt bleibt.


Soziale Räume und Zentren der städtischen Selbstverwaltung

5. Eine der Herausforderungen des Munizipalismus liegt in der sozialen und institutionellen Anerkennung der Eigenheit und Autonomie der sozialen Räume und Zentren der städtischen Selbstverwaltung, die das Recht auf Stadt und die demokratische Teilhabe in die Tat umsetzen.

6. Aus dieser expliziten Anerkennung erschliesst sich die Notwendigkeit, dass die Gemeinden Ressourcen und öffentliche Infrastruktur für die gemeinsame Nutzung zur Verfügung stellen, in Übereinstimmung mit einer sozialen Agenda, die in den existierenden Räumen bereits umgesetzt und verwaltet wird und in der aktiv die Überlassung weiterer Räume angemahnt wird: neue gesetzliche Regelungen, Übertragung von Nutzungsrechten, etc.

7. Für die Genoss_innen, die an der institutionellen Front und in den Bewegungen soziale Räume verwalten, sollen Begegnungsstätten geschaffen werden. Das Ziel dieses Vorhabens ist die Entwicklung eines spezifischen Diskurses, der ihre Legitimität zu erweitern und den Konflikt im Herzen des Rechts auf Stadt zu positionieren vermag.


Sozialer Syndikalismus und soziale Rechte

8. Durch den Abbau des Sozialstaats wird für die Umsetzung sozialer Rechte immer stärker gesellschaftliche Selbstorganisation erforderlich. Diesen Prozess nennen wir im Allgemeinen sozialen Syndikalismus. Wenn in einem Horizont von zunehmender Prekarisierung und informeller Arbeit die Arbeitsorte ihre Zentralität als Konflikträume verlieren, müssen wir neue Formen des Kampfes erfinden, die auch neue Rechte nach sich ziehen. Es ist Zeit, gemeinsam zu diskutieren, welche neuen Formen der Gewerkschaft wir benötigen.

9. Die munizipalistische Bewegung sollte ein bevorzugter Ort für die Unterstützung, Förderung und Begleitung von Initiativen wie der PAH, Yo Sí Sanidad Universal, den autonomen Kantinen usw. werden, wo ausgehend von der Politisierung der kollektiven Probleme und dem Aufbau von Strukturen wechselseitiger Unterstützung Selbstorganisation entsteht.

10. Die städtische Nachbarschaft kann ein privilegierter Ort der Koordination von Erfahrungen auf territorialer Ebene sein, aber auch zur Erweiterung des Umfangs und der Kapazität des munizipalistischen Netzes beitragen. So lässt sich vorschlagen, mit Formen des sozialen Syndikalismus zu experimentieren, die verschiedene, bisher getrennte Aspekte kombinieren. Dazu ist es auch notwendig, gemeinsame Kommunikationsstrukturen und Verteidigungslinien zu erfinden.


Arbeit, Kooperativismus und Remunizipalisierung

11. Qualität und Universalität der öffentlichen Dienste aufrechtzuhalten, ist zentral im Kampf gegen den Neoliberalismus und in der angemessenen Neudefinition des Öffentlichen. Dieses Terrain erlaubt Experimente der Demokratisierung, Selbstverwaltung und Mitbestimmung. Deshalb drängen wir die munizipalistische Bewegung, gemeinsame Wege zur Wiederaneignung und Schaffung neuer öffentlicher Dienstleistungen zu finden und Prozesse des Konflikts zu eröffnen, die zur Aktivierung und Unterstützung in der städtischen Mobilisierung geeignet sind.

12. Zu diesem Zweck scheint es angemessen, die Anstrengungen zu bündeln und die Information aus den verschiedenen Gemeinden auszutauschen, wo erfolgreiche Beispiele für die Remunizipalisierung ebenso existieren wie für die Erschaffung neuer Dienstleistungen. Dies beinhaltet auch andere Werkzeuge wie Sozialklauseln und Gesetzeslücken, die es erlauben, die Qualität ausgelagerter oder subunternehmerischer Arbeit zu verbessern, Erfahrungen der Übergabe von Nutzungsrechten an Arbeitskooperativen sowie die neuen Modelle der gemeinsamen Verwaltung, die wir zu erfinden imstande sein werden.

13. Wir rufen dazu auf, in den verschiedenen Gemeinden die Möglichkeit von Formen des koordinierten Ungehorsams gegen jene Gesetze zu denken, die die ökonomische Kapazität, die Kreditaufnahme oder die Auftragsvergabe dieser Gemeinden begrenzen, als Haupthindernis für die Wiederaneignung der öffentlichen und gemeinsamen Dienstleistungen.

14. Es ist notwendig, Handlungsformen zu lancieren, die das Gewebe der Kooperativen mittel-  und langfristig durch den Einsatz öffentlicher Institutionen als privilegierter Partner_innen stärken. Die Institutionen sollten auch bei der Gründung von Kooperativen in zukunftsweisenden Sektoren Unterstützung bieten, die am meisten Investitionen brauchen. Bei all dieser Unterstützung muss die Autonomie der Bewegung der Kooperativen respektiert bleiben.


Das Europa der rebellischen Städte

15. In Italien und anderen Ländern entwickeln sich gerade durch den munizipalistischen Schwung in Spanien inspirierte Initiativen. Der Munizipalismus und das Bündnis der Städte müssen auf europäischer Ebene ein privilegierter Raum für den Aufbau eines Europas gegen die Sparpolitik sein, aber auch eines Europas gegen die Rassismen und Faschismen, die sich in mehreren Ländern des Kontinents auf dem Vormarsch befinden, wie es in der menschlichen Tragödie der Flüchtenden offensichtlich wird.

16. Die munizipalen Regierungen des „Wandels“ waren die ersten, die gegen die unerträgliche Behandlung von Migrant_innen und Flüchtenden sowie gegen die wachsende Ungleichheit innerhalb der EU das Wort erhoben haben. Allerdings müssen sich diese Proteste über ihren rhetorischen Gehalt hinaus in substanzielle Prozesse und Kampfansagen übersetzen. In der Perspektive dieser Tagung  wird das die Herausforderung für ein Netzwerk von politischen, steuerlichen und ökonomischen Formen der Gegenmacht von rebellischen Städten und Gemeinden sein. Eine Gegenmacht, die sich nicht nur als Widerpart oder Gegengewicht zur „wahren“ Macht versteht, sondern als eine neue Macht, die die Macht transformiert, eine konstituierende Macht.

17. Diese Gegenmacht ist einer der möglichen Wege, die Blockaden der sozialen und politischen Kämpfe in Südeuropa zu lösen und sie für die Dynamik der EU wirksam zu machen. Die munizipalistische Achse ist eines der am stärksten fehlenden Kapitel des europäischen Dramas, das durch die Dialektik zwischen den Nationalstaaten und zwischen ihnen und den EU-Institutionen (Euro-Gruppe, Kommission, Europäischer Rat) gelähmt ist. Ein Netzwerk der rebellischen Städte kann tatsächlich zu einem anderen Europa führen und zugleich das Europa der Sparpolitik, des finanziellen Autoritarismus, der Fremdenfeindlichkeit und der Ermöglichung von Faschismus und Krieg bekämpfen und zerstören.


Bis zur nächsten Tagung, die für November / Dezember 2016 in Iruñea-Pamplona geplant ist. Dort treffen wir uns wieder, um weiterzuarbeiten! Municipalistas der Welt, vereinigt euch!


Erstveröffentlichung: Diagonal, https://www.diagonalperiodico.net