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02 2010
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»ICH STRESS. ICH PAUSE. ICH STREIK.«

Widerständige Subjektivierungen auf den EuroMayDay-Paraden der Prekären

Marion Hamm / Ove Sutter

Marion Hamm

biography

Ove Sutter

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In der Zeit seines Bestehens wurde der 1. Mai als öffentliche Versammlung zur Artikulation politischer und sozialer Interessen von unterschiedlichsten AkteurInnen aufgegriffen. Mit den gesellschaftlichen Bedingungen und den jeweiligen AkteurInnen wandelten sich auch Forderungen und Ausdrucksformen. Neben den geordneten Umzügen und Kundgebungen der organisierten Arbeiterbewegung finden etwa seit den 80er Jahren die »revolutionären 1.-Mai-Demonstrationen« der urbanen radikalen Linken, seit 2000 einige global ausgerufene Aktionstage der globalisierungskritischen Bewegung sowie Massenmobilisierungen migrantischer ArbeiterInnen in den USA statt.

In jüngster Zeit sind die EuroMayDay-Paraden der Prekären hinzugekommen (www.euromayday.org). Hier versammeln sich jene, die – oft durchzogen von Phasen der Erwerbslosigkeit – in ungesicherten befristeteten oder Teilzeitjobs, als PraktikantInnen oder selbständige ProjektarbeiterInnen beschäftigt sind. Ausgehend von der ersten im Jahr 2001 in Mailand durchgeführten MayDay-Parade mit 5.000 TeilnehmerInnen verbreitete sich das Format auf mittlerweile über 40 europäische Städte. Die TeilnehmerInnenzahlen reichen von unter Hundert beim Mini-MayDay in der Kleinstadt Hanau bis 120.000 in Mailand im Jahr 2005 (Mattoni 2006).

Als transnationales Netzwerk formierte sich EuroMayDay im Jahr 2004 bei »Beyond ESF«, einer Veranstaltung im Kontext des Europäischen Sozialforums in London. Gruppierungen aus der globalen Protestbewegung erklärten in der »Middlesex Declaration« ihre Absicht, 2005 in ganz Europa zeitgleich am 1. Mai EuroMayDay-Paraden abzuhalten.Von Helsinki und Hamburg im Norden bis Neapel im Süden, von Amsterdam im Westen bis Wien im Osten wurde dies in 19 Städten umgesetzt.

Sprühend vor Kreativität und strotzend vor Dynamik, sind die EuroMayDay-Paraden von Darstellungsformen in unterschiedlichsten medialen Formaten durchzogen: Website-Adressen werden auf die Straße gemalt, Aufkleber werden auf Schaufenster, Bankautomaten, Laternenpfähle, T-Shirts oder das eigene Gesicht geklebt, es werden Graffiti gesprüht, Transparente mitgetragen, und Plakate beschriftet. DJs beschallen die Parade von aufwendig dekorierten Wägen mit Soundsystemen aus, während auf der Straße getanzt wird. Es wird fotografiert, gefilmt, geSMSt – alle scheinen ständig etwas zu tun zu haben.

Durch die Wahl des »Internationalen Kampftags« der Arbeiterbewegung als Veranstaltungstermin, und die verwendete Bildersprache in Kombination mit dem Thema der »Prekarisierung von Arbeit und Leben« machen die EuroMayDay-AktivistInnen deutlich, dass sie sich in der Traditionsline der Arbeiterbewegung verorten. Gleichzeitig markieren sie inhaltlich und durch die Form ihres Auftretens eine Differenz zu dieser Tradition (Hamm/Adolphs 2009). Von außen betrachtet fallen die EuroMayDay-Paraden im Unterschied zu den traditionellen 1.-Mai-Umzügen durch Offenheit, Ungeordnetheit und Vielfalt auf (Denk/Waibel 2009). In einem Strom von  Farben, Formen und Klängen beziehen sie unterschiedlichste Inhalte auf das Konzept der Prekarisierung von Arbeit und Leben.

Dies lässt sich nicht nur auf unterschiedliche ästhetische Vorlieben zurückführen, sondern hat vor allem mit den sich verändernden Arbeits- und Lebenswelten zu tun, in denen sich die TeilnehmerInnen des EuroMayDay bewegen, in denen sie sich organisieren und aus denen sie ihre programmatischen Forderungen entwickeln (Adolphs/Hamm 2008).

Was sind es nun für Arbeits- und Lebenswelten, aus denen die EuroMayDay-Paraden hervorgehen? Warum präsentieren sich die TeilnehmerInnen nicht als VerkäuferInnen, Studierende, ProgrammiererInnen, KulturarbeiterInnen, DienstleisterInnen, sondern als eine Vielfalt von kulturellen und politischen Identitäten und Subjektivitäten? Woher kommt der hohe kreative Einsatz, mit dem Einzelne, Gruppen und Grüppchen ihre eigene Situation als Bilder und Performances bei den EuroMayDay-Paraden zum Ausdruck bringen?

 
Die postfordistischen (Wissens-)ArbeiterInnen ...

Seit den 70er Jahren läßt sich eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Organisation beobachten, die von Regulationstheoretikern als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus bezeichnet wird (Jessop 2007). Mit dem damit verbundenen Wandel der Arbeits- und Lebenswelten gerät das gesellschaftliche Leitbild des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses ins Wanken. Die Normalität des männlichen Arbeitnehmers, der in fester Anstellung einer geordneten Laufbahn folgt und als Alleinverdiener seine Familie ernährt, wird zunehmend von »prekären« und »subjektivierten« Arbeitsverhältnissen unterlaufen (Schönberger 2007).

Prekäre Arbeits- und Lebenssituationen sind vor allem in gar nicht mehr so  »atypischen Beschäftigungsverhältnissen« wie Teilzeitarbeit, Leiharbeit, befristeter Beschäftigung, geringfügiger Beschäftigung, Projektarbeit, Praktika, (Schein-)Selbständigkeit und dem beträchtlichen Sektor der illegalisierten Arbeit anzutreffen. Nicht nur die Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse, sondern auch zunehmende Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen erschweren eine langfristige Karriere- oder gar Lebensplanung. Prekär Erwerbstätige verfügen häufig über ungenügende oder gar keine soziale Absicherung für Krankheit, Unfälle oder Alter. Oft haben sie uneindeutige räumliche und zeitliche Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zu bewältigen. Vielen reicht das Einkommen nicht zur Existenzsicherung. Zudem können sie nur selten auf traditionell gewerkschaftliche Formen der Interessenvertretung zurückgreifen. Je nach Lebensumständen können solche Arbeitsverhältnisse als Erweiterung der eigenen Autonomie oder als Zumutung erlebt werden – und häufig mischen sich diese Wahrnehmungen (Tsianos/Papadopoulos 2007).

Nicht nur die Rahmenbedingungen der Arbeit haben sich verändert, sondern auch die Arbeit selbst. Fähigkeiten und Tätigkeiten, die eng mit der Persönlichkeit der Arbeitenden, aber auch der KonsumentInnen in Verbindung stehen, und die im Fordismus eher in den Bereichen Alltag und Freizeit angesiedelt waren, rücken zunehmend ins Zentrum der Produktionslogik westlicher Gesellschaften. Ein Indiz dafür ist das stetige Anwachsen des Dienstleistungssektors seit den 70er Jahren. Dieser Prozess wird in der Soziologie als »Subjektivierung der Arbeit« bezeichnet und ist in unterschiedlichem Ausmaß quer durch alle Branchen und Industrien zu beobachten (Moldaschl/Voß 2002). Quasi idealtypisch vollzieht er sich in Bereichen wie Medien, Wissenschaft, Werbung oder Kultur, in denen der Umgang mit und die Produktion und Distribution von Wissen im Vordergrund stehen.

Wissen wird zum Produkt und einer grundlegenden Ressource im Produktionsprozess westlicher Industrieländer. Es werden zunehmend immaterielle Güter hergestellt – wie etwa Waren- und Unternehmens-Images, informations- und kommunikationstechnologisches Wissen oder – oft digital gestützte – Kommunikations- und Kooperationsnetzwerke. Entsprechend werden von den Arbeitenden in erhöhtem Maße kommunikative und affektive Fähigkeiten gefordert. Kreativer Umgang mit Sprache, Zeichen und Symbolen, die Fähigkeit, sich ständig weiterzubilden, zu kooperieren und Netzwerke zu produzieren rücken ins Zentrum des Produktionsprozesses.

Der Prozess der Subjektivierung von Arbeit wird zum einen durch die strukturellen Veränderungen des Produktionsprozesses an die Arbeitenden herangetragen. Zum anderen geht diese Form der Arbeit aber auch auf historische Prozesse "von unten", zurück: auf die Forderung nach einer Verbindung von Arbeit und Leben, die sich gegen die im Produktionsprozess erfahrene Entfremdung richtete, und auf die Forderung nach mehr Selbstbestimmung auch im Arbeitsverhältnis. Diese Forderungen äußerten sich z.B. in den 60er Jahren in kollektiven Kämpfen gegen starre Hierarchien, räumliche und zeitliche Begrenzungen und entfremdete Tätigkeiten in den Fabriken und Büros und werden nun neoliberal gewendet als Anforderung durchgesetzt.

Subjektivierte Arbeit wird weniger auf Anweisung von oben verrichtet, sondern erfordert die selbstgesteuerte und eigenverantwortliche Beteiligung der Arbeitenden an Entscheidungsprozessen. Gerade in der verbreiteten, oft (schein)selbständigen Projektarbeit ist es nötig, eigeninitiativ zu agieren. Dies führt nicht zuletzt dazu, dass die Sphären von Arbeit und Freizeit zunehmend ineinander übergehen.

Ebenso müssen die Arbeitenden aufgrund ihrer häufig wechselnden Erwerbs- und Lebenssituationen über Fähigkeiten und Techniken verfügen, auf sich selbst verändernd einzuwirken und sich entsprechend der wechselnden Anforderungen zuzurichten. Die reflexive Perspektive auf sich selbst, auf die eigene Biographie, auf den weiteren Verlauf des eigenen Lebens und die damit verbundenen Wünsche und Ziele muss ständig neu ausgerichtet werden.

Diese Art der Produktion bringt in vielen Branchen selbst Subjektivitäten hervor. Hier werden neue Wissensformen, neue Bedürfnisse und neue Netzwerke erzeugt, die die Art, sich selbst und seine Umwelt zu sehen und zu deuten sowie im Umgang mit sich selbst und mit anderen zu handeln, verändern. In solchen Arbeitsverhältnissen müssen die Arbeitenden also nicht nur in der Lage sein, auf ihre eigene Subjektivität verändernd einzuwirken, sie müssen darüber hinaus auch Techniken beherrschen und über Fähigkeiten verfügen, die geeignet sind, die Subjektivitäten anderer zu verändern (Lazzarato 1998).

 
.... auf dem EuroMayDay

Mit dem EuroMayDay als »Parade der Prekären« am 1. Mai wird versucht, der Prekarisierung von Arbeit und Leben wirksame Formen des Widerstands entgegenzusetzen (Panagiotidis/Tsianos 2007). Dazu werden gegenüber dem Handlungsrepertoire der Arbeiterbewegung veränderte Formen und Themen entwickelt. So schreibt die Vorbereitungsgruppe des EuroMayDay Wien im Jahr 2005 in ihrem Aufruf:

»Von den traditionellen Maiaufmärschen werden sich unsere Aktivitäten an diesem Tag durch lautstarke, bunte und kreative Formen des Kampfes und der Organisation unterscheiden. Aber auch durch die Verschiebung des inhaltlichen Schwerpunkts von einer abstrakten Feier der Arbeit hin zur Auseinandersetzung mit der konkreten Prekarisierung von Arbeit und Leben.«[1]

Das Thema wird von »Arbeit« auf »Prekarisierung« verschoben. Auf den EuroMayDay-Paraden präsentieren sich die AkteurInnen nicht einheitlich getaktet als »Arbeiter«, sondern sie bringen eine Vielheit von ungesicherten Lebenssituationen zum Ausdruck, verbunden mit dem Wunsch, diese Situationen kollektiv und kämpferisch zu verändern. »Ich Stress. Ich Pause. Ich Streik« hieß es auf dem Berliner Euromayday 2008. Wie die spanische Gruppe Precarias a la deriva (2004) feststellt, ist dies kein einfaches Unterfangen:

»Unsere Situationen sind so unterschiedlich, so singulär, dass es uns schwer fällt, den gemeinsamen Nenner zu finden, von dem wir ausgehen könnten, oder die eindeutigen Unterschiede, durch die wir einander bereichern könnten. Es ist schwierig für uns, uns auf der gemeinsamen Basis von Prekarität auszudrücken und zu definieren, einer Prekarität, die auf eine eindeutige kollektive Identität verzichtet, in der sie sich simplifiziert und verteidigt, die aber nach einer Form der gemeinsamen Verortung verlangt.«

Entsprechend kündigten die Wiener InitiatorInnen an, »Repräsentation durch Selbstermächtigung, Einfalt durch Vielheit zu ersetzen«. Gegenwärtige Prekarisierungsprozesse sollten »der Unsichtbarkeit entrissen und verhandelbar gemacht werden«, um so »eine Basis für gemeinsames politisches Agieren zu schaffen«.

Aber wie lässt sich eine soziale Bewegung auf Unterschiedlichkeit gründen? Besteht eine Bewegung nicht gerade darin, dass Akteure auf der Basis einer gemeinsamen Identität ihre Interessen durchsetzen? Wie können die vereinzelten, individualisierten Kämpfe im Umgang mit prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen sichtbar gemacht werden, wenn eine eindeutige Repräsentation weder möglich noch gewünscht ist? Eine erste Antwort darauf gibt der Aufruf zur Euromayday-Parade 2004, die in Mailand und Barcelona stattfand:

»Wir sind davon überzeugt, daß das Rückgrat des neoliberalen Akkumulationprozesses in der flexiblen und unsicheren Arbeit von jungen Leuten, Frauen, MigrantInnen und Angestellten in ungesicherten Arbeitsverhältnissen besteht, im unverzichtbaren Bereich der reproduktiven und distributiven Dienstleistungen, und in den Wissens-, Kultur- und Medienbranchen, die das Rohmaterial bereitstellen, das eine Voraussetzung für das Funktionieren des Systems ist: (...) Wir sind die ProduzentInnen neoliberalen Reichtums, wir sind die SchöpferInnen des Stils und der Kultur, die durch die Macht der Monopole eingezäunt und in Besitz genommen werden...« (Ü.d.Verf.)[2]

Die InitiatorInnen positionieren sich damit als DienstleisterInnen, als Wissens-, Kultur- und MedienarbeiterInnen an zentraler Stelle des Produktionsprozesses. Im Aufruf des folgenden Jahres kündigen sie an, eine »neue soziale Imagination« schaffen zu wollen:

»Prekäre Menschen sind nun der Grundstein der Produktion gesellschaftlichen Reichtums. Trotzdem sind wir unsichtbar und haben keine Geltung in den traditionellen Formen sozialer und politischer Repräsentation oder auf der europäischen Tagesordnung. (…) Darum errichten wir einen öffentlichen Raum auf europäischer Ebene. Damit wollen wir neue Formen sozialer Kooperation vorantreiben, das Teilen von Fertigkeiten, Erfahrungen und Ressourcen maximieren: Wir wollen eine neue soziale Imagination konstruieren und ins Leben rufen.«[3]

Wenn die Subjektivität der Arbeitenden zum zentralen Produktionsmittel wird, dann liegt es nahe, eben in diesem Bereich nach Werkzeugen zur Opposition, zum Widerstand und zum Aufstand zu suchen. Die Mailänder Gruppe »Chainworkers«, Mit-Initiatorin der ersten Euromayday-Parade, ging genau von dieser Logik aus:

»Viele in der ChainCreW haben dieses seltsame Profil einer Gewerkschaftsvergangenheit und einer Gegenwart als ArbeiterInnen in der Mailänder Medienindustrie. Wir sind mit der Überzeugungskraft von Popkultur und dem Lexikon des Werbegeschäfts wohlvertraut. Unsere Intention ist es, eine neue ›Marke‹ von arbeitsbezogenem Aktivismus und Revolte zu bewerben, also zu ›subvertisen‹, indem wir Sprache und Graphix verwenden, die auf die Zielgruppe derer ausgerichtet ist, die keine politische Erfahrung haben als den Verschleiß und die Mühsal ihres Körpers und Geistes in den riesigen Verkaufsstellen.« (Ü.d.Verf., zitiert in Vanni 2007:151)

Ausgehend von den eigenen Arbeits-Erfahrungen in der Medienindustrie und den daraus formulierten politischen Absichten entwickelten sie das Protestformat der EuroMayDay-Paraden als Ausdruck einer Vielzahl von kulturellen und arbeitsbezogenen Subjektivitäten, die zusammenfließend und doch unterscheidbar bleibend als politische sichtbar werden.

Eine Affinität der InitiatorInnen von EuroMayDay-Paraden zu unterschiedlichen Bereichen der Wissensarbeit lässt sich in vielen Städten beobachten. Weder InitiatorInnen noch die weiteren Vorbereitungs- und TeilnehmerInnenkreise lassen sich jedoch eindeutig auf eine Branche festlegen (John/Panagiotidis/Bergmann 2006). Oft treffen in einer Person höchst unterschiedliche soziale Lagen aufeinander – die Hartz-IV-Empfängerin mit Migrationhintergrund kann eben ihr Studium abgeschlossen haben, die mehrsprachige Bewegungsfunktionärin arbeitet als Lagerarbeiterin, der autodidaktisch gebildete Büroarbeiter ist Performance-Künstler.

 
EuroMayDay-Paraden als Ereignisse widerständiger Subjektivierung

Eine transnationale Praxis, die viel über Funktion des EuroMayDay sowie die widerständigen Potenziale aussagt, die aus subjektivierten und prekären Arbeitsverhältnissen erwachsen, ist die Entwicklung von mediatisierten, visualisierten, verkörperten Figuren des Prekären. Eine davon ist die Figur der prekären »Superhelden« (Panagiotidis 2007). An ihr lässt sich verdeutlichen, dass der EuroMayDay nicht nur eine Parade ist, die den Widerstand gegen die veränderten Produktions- und Arbeitsverhältnisse repräsentiert. Der EuroMayDay ist vielmehr ein Ereignis, das ermöglicht, widerständige Subjektivitäten performativ zu erzeugen.

Die visuell und narrativ offene Figur der SuperheldInnen und das damit verbundene dichte konzeptuelle Repertoire entstand 2005 in Mailand als »Imbattibili«, übersetzt: die »Unschlagbaren« (Vanni 2007; Mattoni 2008). Auf Anregung der Gruppe Chainworkers entwickelten einzelne Personen, Gruppen und politische Zusammenhänge in der Region Mailand je eine SuperheldInnenfigur, die ihren Aktivitäten entsprach – von »Captain Vegan«, der »im Bewusstsein der Perversitäten des Fast-Food-Systems« kostenlose vegane Sandwiches an die Massen verteilt, über »Wonderbra«, tagsüber Telefonistin, nachts Sexarbeiterin, zwischendurch Masseuse (Slogan »Meglio battere che combattere«), die dank der Fähigkeit zur subversiven Nutzung ihrer Zeit aus der Not eine Tugend macht, bis zu »Quit«, der die Arbeitsverträge in den Datenbanken der Arbeitsvermittlungsagenturen verändert und jungen und prekären InformatikerInnen öffentliches Wissen und kostenlose Software vermittelt. Jede SuperheldInnenfigur wurde im Comic-Stil visualisiert und mit einer Kurzvita ausgestattet, die erzählt, welche Superkräfte sie aufgrund ihrer prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen, meist durch Mutation, entwickelte. Ein Rating der Eigenschaften Prekarität, Flexibiltät, Kampfgeist und Phantasie und eine Kontaktadresse der jeweils beteiligten Gruppe komplettierten die Steckbriefe, die bis heute auf der Webseite der Chainworkers einsehbar sind. Für die EuroMayDay-Parade wurden die Figuren mit Sammelkärtchen, Sammelbogen und eigens gestalteten Paraden-Wagen zu einem interaktiven Spiel verarbeitet. Diese Anordnung trug zur Kommunikation unter den TeilnehmerInnen bei, indem untereinander gesammelt und getauscht wurde. Tatsächlich stand die Mailänder Parade ganz im Zeichen der Imbattibili. So wurden TeilnehmerInnen per Video-Interview zu ihrer Prekarität befragt, wobei die letzte Frage lautete: »Und was sind Deine Superheldenkräfte?« Zum Abschluss des Gesprächs wurde ihnen ein Superhelden-Cape angeboten, mit dessen Hilfe sie ihren Abgang als SuperheldIn vor der Kamera inszenierten.

In den folgenden Jahren wurden die Imbattibili in das Aktionsrepertoire in anderen Städten aufgenommen, ausgeformt und mit weiteren medialen Formaten kombiniert. Besonders intensiv arbeitete der Hamburger EuroMayDay-Kreis mit der Figur der prekären SuperheldInnen – beginnend mit einer in den Massenmedien vielbeachteten Intervention, die kurz vor dem 1. Mai 2006 in Hamburg stattfand: Eine Handvoll prekärer SuperheldInnen eignete sich in einen Hamburger Edelsupermarkt teure Delikatessen an, die sie anschließend an prekär Beschäftigte in verschiedenen Institutionen zusammen mit einer Einladung zur EuroMayDay-Parade verteilten. AktivistInnen ›liehen‹ den Figuren ihre Körper aus: Die SuperheldInnen wurden zu realen AkteurInnen.

Wenige Tage später tauchten sie auf der Hamburger EuroMayDay-Parade in Form von Buttons und einem »Psychotest« (»Welcher Superheld bist du?«) auf und wurden in mehreren Schritten bis zur Bildung eines »Superheldenblocks« bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 weiterentwickelt.

Während einer Mobilisierungsparty für diese Proteste wurde unter dem Titel »Oute dich als Superheld« ein Foto-Shooting veranstaltet (http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/euromayday-hh/de/2007/03/544.shtml). Es bezog sich auf ein gerichtliches Nachspiel der ersten Intervention, bei dem eine Aktivistin als vermeintliche Superheldin angeklagt war. Partygäste konnten sich in einem improvisierten Fotostudio vor einer Plane mit aufgemalten Büro- und Supermarktkulissen unter professioneller Beleuchtung als SuperheldInnen ablichten lassen. SuperheldInnen-Kostüme lagen bereit, außerdem waren Pappschilder in Form von Sprechblasen vorbereitet worden, die das Comic-Format der SuperheldInnen aufgriffen. Auf den Pappschildern konnten die Party-Gäste im Stil der Jägermeister-Werbung »Ich bin ein Superheld, weil...« die eigenen SuperheldInnenkräfte zum Ausdruck bringen. Diese Kräfte reichten von der traditionellen Aneigung von Ressourcen des Arbeitgebers (»weil ich mir meine Überstunden in Büromaterial auszahle«) bis zum augenzwinkernden Verweis auf globalisierungskritischen Aktivismus (»weil ich G8 nicht für eine BH-Größe halte«). Die Fotos wurden auf der Webseite des Hamburger EuroMayDay-Netzwerks veröffentlicht. Nach der zwar breit rezipierten, doch eher avantgardistisch geprägten Intervention im Feinkostmarkt und mehreren kleineren Anläufen wurde damit die SuperheldInnenfigur auch in Hamburg zu einem Format, das die Produktion von politischen Subjektivitäten über den engeren Vorbereitungskreis hinaus organisierte.

Das spielerische Angebot zum Sprechblasenbeschriften lud Partygäste oder ParadenteilnehmerInnen zu einem doppelten Subjektivierungsprozess ein. Zum einen regte das Angebot, sich vor dem Hintergrund eigener prekärer Alltagserfahrungen als SuperheldIn darzustellen, zu einer kleinen »positiven« Verwandlung des eigenen Selbst an, mit der die je eigene Widerständigkeit betont wurde. Dies ist insofern nicht zu unterschätzen, als prekäre Arbeits- und Lebenssituationen nur allzu oft von einem negativen Selbstbild  und persönlichen Belastungen begleitet sind. Dies trifft auch dann zu, wenn es sich um Prekarität auf »hohem Niveau« – beispielsweise mit Universitätsabschluss oder als freiberufliche Webdesignerin – handelt. Darüber hinaus artikulierten die Sprechblasen die Aufforderung, durch Einspeisung der eigenen Subjektivität und der eigenen Positionen das politische Projekt einer »Bewegung der Prekären« in all seiner Vielheit zu formen, zu stärken und zu einer erst noch zu erfindenden Realität zu machen. Außer dem Satzanfang »Ich bin ein Superheld, weil...« war nichts vorgegeben. Es war keine Vereinheitlichung angestrebt. Entsprechend unterschiedlich fielen die Beschriftungen aus. Dennoch markierte die Vielzahl beschrifteter Sprechblasen einen kollektiven Akteur. Dieser Akteur ist weder Berufsgruppe noch kollektive Identität. Er ist vielleicht am ehesten eine durch diese (selbst-)subjektivierenden Praktiken angestoßene Visualisierung dessen, was Michael Hardt und Antonio Negri und auch manche EuroMayDay-AktivistInnen die »Multitude« nennen – die Menge oder Vielheit der Singularitäten (Hardt/Negri 2004). Die Beschriftung einer Sprechblase und das Umhängen eines SuperheldInnencapes sind keine Mitgliedschaftserklärungen. Dennoch ermöglichen solche Aktionen eine Annäherung an die aktuellen Kämpfe gegen Prekarisierungsprozesse – weniger in Form des traditionellen politischen Organisierens, sondern vielmehr in Form von individuell bleibender und dennoch kollektiver (Selbst-)Subjektivierung. In den Praktiken rund um die Superhelden entwickelt sich ein Aktionsrepertoire, das die Figuren mit dem prekären Alltag der AktivistInnen verknüpft. Ihre Ausstattung mit Superkräften rückt statt des durchaus realen Leidens an Prekarisierungsprozessen die Möglichkeit des Widerstands in den Blick.

Dies ist nur eines von vielen möglichen Beispielen dafür, wie EuroMayDay als Protestformat prekäre Subjektivierungen als Ressource für widerständiges Handeln erkennt (Mattoni 2008). Es zeigt, wie in diesem Zusammenhang interaktive Modelle entwickelt werden, die dazu beitragen, politische Subjektivitäten aus prekären Arbeits- und Lebenssituationen hervorzubringen. Diese Modelle bieten Techniken an, mit denen oftmals schwer fassbare und definierbare Alltagssituationen sicht- und sagbar gemacht werden können. Ohne das Leiden an prekären Alltagen ganz zu verdrängen, regen diese Modelle zu einem Blick auf eigene oder fremde Prekarisierungserfahrungen an, der Möglichkeiten des Widerstands in den alltäglichen Kämpfen wahrnimmt. Ohne auf eine einheitliche politische Identität zu drängen – wie es die traditionelle Arbeiterbewegung mit dem Leitbild des weißen, männlichen heterosexuellen (Klein-)Familienernährer tat –, lassen sie die Möglichkeit kollektiven politischen Handelns aufscheinen. Diese Modelle sind niedrigschwellig und spielerisch. Sie setzen weniger an der politischen Überzeugung an, als vielmehr an Alltagserfahrungen – bei jener Ressource, aus der sich nicht nur die neoliberal-postfordistische Produktion speist, sondern aus der eben auch die Widerstände gegen sie erwachsen.

In einer Vielzahl von Praktiken rund um die EuroMayDay-Paraden wird deutlich, wie die Fähigkeiten und manchmal auch Leidenserfahrungen der AkteurInnen, die sie aus ihren immateriellen und subjektivierten Arbeitsverhältnissen mitbringen, für Widerstände gegen eben jene Verhältnisse, aus denen sie hervorgingen, genutzt werden können.

Wer soziale Kooperationen erzeugen, mit Symbolen und Zeichen umgehen, wer Kommunikations- und Informationstechnologien verwenden, auf subjektive Wahrnehmungs, Deutungs- und Handlungsformen einwirken, wer selbstverantwortlich und eigeninitiativ  handeln und sich selbst entsprechend der Anforderungen des prekären Alltags verändern kann, die und der hat viele Möglichkeiten, sich zu wehren – SuperheldInnen-Kräfte eben.

 
Literatur

Adolphs, Stephan/ Marion Hamm (2008) Prekäre Superhelden: Zur Entwicklung politischer Handlungsmöglichkeiten in postfordistischen Verhältnissen, in Claudio Altenhain/ Anja Danilina/ Erik Hildebrandt/ Stefan Kausch/ Annekathrin Müller/ Tobias Roscher (Hg.): Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten, Bielefeld: Transkript, S. 165-182.

Hardt, Michael/ Negri, Antonio: Multitude, Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt a.M./ New York 2004.

Denk, Larissa/ Waibel, Fabian: Vom Krawall zum Karneval. Zur Geschichte der Straßendemonstration und der Aneignung des öffentlichen Raumes. In: Klaus Schönberger / Ove Sutter (Hg.): Kommt herunter, reiht euch ein... Eine kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen. Berlin 2009, S. 46–86.

Jessop, Bob (2007): Was folgt dem Fordismus? Zur Periodisierung von Kapitalismus und seiner Regulation. In: ders.: Kapitalismus, Regulation, Staat. Ausgewählte Schriften, Hamburg, 255-274.

John, Frank/Efthimia Panagiotidis/Meike Bergmann (2006): Die Putzfrau war präsent, aber wie sieht sie aus? Interview mit den OrganisatorInnen des Hamburger Euromaydays 2006. In: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 504 / 17.3.2006. Online: http://www.akweb.de/ak_s/ak504/18.htm

Lazzarato, Maurizio (1998): Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus. In: Negri, Antonio/ Lazzarato, Maurizio/ Virno, Paolo (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin, S. 39–52.

Mattoni, Alice (2006) Multiple mediation processes in contemporary social movements: Six years of euromayday parade in Italy. Tagungsvortrag: “Identifier, s’identifier – Faire avec, faire contre”, 30.11.-01.12.2006) Universität Lausanne. Online: http://www.unil.ch/webdav/site/iepi/users/cplatel/public/atelier_3/Mattoni.pdf

Mattoni, Alice (2008) Serpica Naro and the Others. The Media Sociali Experience in the Italian Precarious Workers Struggles, in Portal 5.2. Online: http://epress.lib.uts.edu.au/ojs/index.php/portal/article/view/706/920

Moldaschl, Mafred/ Voß, Günter G. (Hg.): Subjektivierung von Arbeit. München 2002.

Panagiotidis, Efthimia (2007): Die „gute Botschaft“ der Prekarisierung

Zur Symbolik von SuperheldInnen in Zeiten der postfordistischen Zeichenflut. In: Translate 2 (2007). Online-Magazin. http://translate.eipcp.net/transversal/0307/panagiotidis/de (Januar 2010).

Panagiotidis, Efthimia/ Tsianos, Vassilis (2007): Euro Mayday 005 - oder Paola rennt ... In: http://www.20er.at/index.php?nID=x41adc3d0899c26.55092389&artID=1113214166__
ID425a4cd67bef84.74001821
.

Precarias a la deriva (2004): Streifzüge durch die Kreisläufe feminisierter prekärer Arbeit.

Webmagazin republicart.net. Online: http://republicart.net/disc/precariat/precarias01_de.htm

Schönberger, Klaus (2007): Widerständigkeit der Biographie. Zu den Grenzen der Entgrenzung neuer Konzepte alltäglicher Lebensführung im Übergang vom fordistischen zum postfordistischen Arbeitsparadigma. In: Seifert, Manfred/ Götz, Irene/ Huber, Birgit (Hg.): Flexible Biographien. Horizonte und Brüche im Arbeitsleben der Gegenwart. Frankfurt/M. et al., S. 63–97.

Tsianos, Vassilis/ Papadopoulos, Dimitris (2007) Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus. Oder wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?, In: Transversal. Online-Gagazin. http://eipcp.net/transversal/1106/tsianospapadopoulos/de.

Vanni, Ilaria (2007): How to do things with words and images: Gli Imbattibili. In: Johanna Sumiala-Seppänen/ Matteo Stocchetti (Hg.): Images and Communities. The Visual Construction of the Social. Kirjastoluokka (zit. nach Manuskript).

Artikel aus Wolfgang Maderthaner / Michaela Maier (Hg.) (2010): Der 1. Mai. Demonstration, Tradition, Repräsentation. Verlag Rot. Wien (erscheint April 2010).

 

Dieser Text ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen dem vom Schweizer Nationalfonds geförderten Projekt „Protest als Medium – Medien des Protests“ an der Universität Luzern und dem Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Alle zitierten Aufrufe zu EuroMayDay-Paraden sind im Online-Archiv des Luzerner Projekts (http://protestmedia.net/archive) dokumentiert. Wir danken den Euromayday-AktivistInnen aus verschiedenen Städten für die Gewährung einer produktiven und anspruchsvollen Forschungsbeziehung.

 



[1] Call Wien 2005; URL: http://unilu.strg.ch/2005/5192

[2] EMD Call 2004; URL: http://unilu.strg.ch/2004/5190.

[3] EMD Call 2005; URL: http://unilu.strg.ch/2005/5196.