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Die Sprachen der Revolution

Einleitung zu Paolo Virno, Grammatik der Multitude

Klaus Neundlinger und Gerald Raunig

Klaus Neundlinger

biography

Gerald Raunig

biography


zuerst veröffentlicht in: Paolo Virno, Grammatik der Multitude, Wien: Turia+Kant 2005, 9-21.

1. Revolutionäre Sprachen als Sprachen des Möglichen

Wer die Mühe auf sich nimmt, eine Revolution zu studieren, fühlt sich am Ende nicht selten wie „zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte“[1]. Das liegt nicht ausschließlich am jeweiligen Fort- und Ausgang der geschichtlichen Umwälzungen, sondern auch an einem „theoretischen Werden“, an der Tatsache, dass dem reflektierenden Blick auf gescheiterte oder „niedergeschlagene Revolutionen“ eine tiefe Einsicht in die Strukturen, in das „Invariante“ historischer Prozesse vorbehalten ist. Die Überlegungen Paolo Virnos zur Grammatik der Multitude enden mit der in zehn Thesen ausformulierten Betrachtung einer unterlegenen Revolution. Einer Revolution, die sich im Italien der 1960er und 1970er Jahre ereignet hat und die von den Arbeitskämpfen in den großen Fabriken über die außerinstitutionellen Kämpfe der Autonomie in eine sehr früh einsetzende theoretische und praktische Auseinandersetzung mit den Transformationen der kapitalistischen Akkumulations- und Produktionsweise mündet. Virno sieht in ihr eine der wesentlichen Voraussetzungen der gegenwärtigen Produktionsordnung, insofern diese mit dem Auftauchen eines neuen historisch-politischen Subjekts verbunden ist: der postfordistischen Multitude. Die Grammatik der Multitude leitet sich von der Sprache jener Revolution ab; das bedeutet, dass das Studium dieser Sprache uns das Regelwerk der „revolutionären Ausdrucksweisen“, wie sie in eben jener Bewegung, von jener Bewegung und für jene Bewegung geschaffen wurden, erschließt, aber nicht nur dies. Die innere Notwendigkeit, der grässliche Fatalismus, der schließlich zu ihrer Niederlage geführt hat, verweist uns auf ein der Grammatik benachbartes Gebiet der Sprachwissenschaft, nämlich die Philologie: Verschwinden, Substitutionen und Verschiebungen spiegeln Aspekte wider, die die Sprache nicht von vornherein in ein unveränderliches „gemeinsames“ Schicksal (die „Sprache eines Volkes“) verwandeln, sondern ihr den Wert des Ereignisses zurückerstatten: „Was ist passiert?“

Der Zerfall, die lautliche und strukturelle Wandelbarkeit bzw. die kontingente Ausformulierung von Konstellationen verfügen trotz ihres zufälligen Charakters über eine der jeweiligen Sprache innewohnende Positivität, sie sind nicht als arbiträr gegenüber den invarianten Strukturen abzuwerten, sondern ermöglichen es uns, aufs Genaueste die Brüche, Spaltungen, Verwerfungen in einem grammatikalischen Subjekt nachzuvollziehen, das nicht mit sich identisch ist.

Der Haupteinsatz der Grammatik der Multitude gilt einer spezifischen Form der spinozistischen Figur der multitudo. Dies ist das grammatikalische Subjekt, mit dem wir es zu tun haben: Virno beschreibt in seiner Vorbemerkung die Verdrängung des Begriffs durch den des Volks im Laufe des 17. Jahrhunderts. Ein vieldeutiges, unbestimmtes Subjekt harrt seiner „Ausformulierung“ als sujet, seiner Deklination in den verschiedensten Bereichen der Regierung und Administration des gemeinschaftlichen Lebens. Sowohl in den praktisch-politischen als auch den theoretisch-philosophischen Auseinandersetzungen jener Zeit war noch nicht absehbar, dass sich in der Folge – im Entstehen und den kriegerischen Auseinandersetzungen der großen Zentralstaaten – das identitäre Konzept, das des Volkes, derart klar gegen das der Vielheit durchsetzen würde. Die multitudo wurde im Laufe dieser Entwicklung immer mehr zur multitude vile, zum Synonym für das niedrige, feige, wilde und gemeine Außen des Staatsvolks, und schließlich auch in dieser Funktion im 19. Jahrhundert vom Begriff der Masse verdrängt. Erst in der zeitgenössischen, postfordistischen Lage, die weniger dadurch geprägt ist, was produziert wird, als dadurch, was potenziell produziert werden könnte, in der Leben und Arbeit ununterscheidbar werden und die – so Virno – einer hinterhältigen und fürchterlichen Form von „Kommunismus des Kapitals“ entspricht, erhebt sich zugleich der alte Kampf wieder, ja die multitudo setzt sich als Phänomen und Begriff ihrerseits gegen das Volk durch.

Sie bringt dies allerdings nicht gemäß einer lange Zeit Geltung beanspruchenden Grammatik der Revolution zustande, die im „Volk“ und in der „Masse“ ihr Subjekt und ihre Subjektivität zu individuieren versuchte: die arbeitende Klasse, das Proletariat, das Subjekt der industriellen Produktion, das sowohl in seiner leninistischen Ausformulierung als auch in seiner sozialstaatlichen Übercodierung einer strengen Disziplin und vielfältigen Techniken der Kontrolle unterworfen wurde. Dieses Subjekt beginnt nämlich mit dem Aufkommen der „niedergeschlagenen“ Revolution der 1960er und 1970er Jahre brüchig zu werden. Am Beginn steht es noch im Mittelpunkt, und doch verlangt es nach Übersetzung, nach Überschreitung des grammatikalischen Regelwerks des Klassenkampfes, nach künstlerischen, medialen Darstellungsformen, die zunächst jenseits der Arbeitsdisziplin erscheinen und auch bewusst gegen diese gerichtet sind. Dennoch verabschiedet sich das vorgängige Subjekt nicht bruchlos, nicht ohne weiteres und nicht von heute auf morgen. Es wird genau studiert, aber nicht von außen, sondern im Sinne eines möglichst allen gemeinsamen Kampfes; gewerkschaftliche Strategien werden analysiert[2], die Zusammensetzung des arbeitenden Subjekts wird eingehend untersucht[3], ebenso seine verschiedenen Attribute wie Volk, WählerInnenschaft usw. sowie schließlich seine Form.[4] Dem Subjekt werden verschiedene Namen zuteil, allen voran operaio massa.[5] Alle diese Bestimmungen, die Kritik und die Anrufung dieses Subjekts verdichten sich in heftigen Arbeitskämpfen, die Ende der 1960er Jahre zur vollen Artikulation des in der entfremdeten Industriearbeit unterjochten Massenarbeiters führen.

Zwei Linien leiten sich aus diesem ersten Höhepunkt ab: Die erste betrifft ein konfliktuales Bewusstsein, das über ein Jahrzehnt hinweg sowohl den konkreten Raum der Fabrik als auch den abstrakteren Raum des Rechts in einen Ort der beständigen Aushandlung, des Protestes, des Kampfes, aber auch der Selbstermächtigung im Sinne der Fortbildung, des Austausches verwandeln wird. Hier ereignet sich also eine Reterritorialisierung der revolutionären Energien. Die zweite Linie hingegen entspricht einer echten Deterriorialisierungsbewegung: das Unbehagen gegenüber der Verfasstheit der industriellen Arbeit als solcher führt dazu, dass eine zweite Protestbewegung ihren Anfang nimmt. Gegen die kulturell-identitäre Homogenisierung der Figur des Massenarbeiters durch die Kommunistische Partei und jenseits der harten Segmentarität der terroristischen Gruppen, deren Unfähigkeit, jenseits des Fordismus zu denken, im Lauf der 1970er Jahre immer groteskere Formen des politischen Kampfes zeitigt, entsteht jene Multitude, die über das Experimentieren mit der Erfahrung auf vielen Ebenen (Subkulturen aller Art, Sexualität, freie Medien, Feminismus, Drogen, alternative Lebensformen, Antipsychiatrie, centri sociali usw.) den Produktionsraum Fabrik in seiner Funktion als Gesellschaftsmodell delegitimiert und schließlich destrukturiert. Die Ausdrucksformen der Mitte der 1970er Jahre erblühenden Bewegung sind nach deren Niederschlagung über Verhaftungswellen, Prozesse, aber auch nach deren Auflösung durch innere Auseinandersetzungen und Widersprüche nicht verschwunden, sondern haben als Subjektivitäten andere grammatikalische Formen angenommen. Das Streben nach „Freiheit“, nach „Autonomie“ und „Authentizität“ wird von der kapitalistischen Produktion übercodiert und in die Arbeitsprozesse integriert. Nicht nur die Niederlage wird fortan den durch diese Bewegung freigesetzten Formen eingeschrieben sein, sondern auch die Ambivalenz. Misstrauen ist deshalb jedoch nicht nur – unter Berufung auf ein hartes, segmentäres Verständnis von Kritik – gegenüber den Verwandlungen des kreativen Protestes angebracht, sondern vor allem gegenüber dem Denken des „Subjekts“ selbst. Das Missverständnis bezüglich revolutionärer Sprachen besteht oft darin, dass man annimmt, sie folgten keinem vorgegebenen Regelwerk und es genüge eben die Anrufung eines zu artikulierenden und zu bestimmenden Subjekts. Dem gilt es entgegenzuhalten, dass diese Sprachen nichts anderes leisten, als mögliche (Neu-)Anordnungen von gegebenen Elementen vorzunehmen, auch wenn diese in den bestehenden Sprachen als Unsinn, Verrücktheit usw. erscheinen. Die Grammatik der Multitude ist deshalb nicht auf die Identifikation eines revolutionären Subjekts reduzierbar, das bei jeder Gelegenheit theoretisch abgefeiert und gegen vermeintlich nicht-revolutionäre Subjekte in Stellung gebracht wird (die in der Folge ausgeschlossen werden müssen), sondern schließt die Pflicht ein, sich mit der revolutionären Syntax auseinander zu setzen, also der immanenten Bezogenheit der Elemente aufeinander. Nur so wird die Multitude als von Gruppen durchzogene Subjektivität erkennbar, nur so wird es möglich, jenseits revolutionärer Versprechungen und Projektionen, aber auch jenseits institutioneller Vorgaben soziale Praktiken zu entwickeln.

 

2. Versprechen des Subjekts

Der von Virno erhobene zeitgenössische Befund hebt sich in diesem Sinn vor allem von zwei Linien der politischen Theorie ab: Zum einen steht die nicht-repräsentationistische Politik, die Virno vorschwebt, in scharfem Gegensatz zu den aktuellen Theorieströmungen, die nach wie vor den Staat, die Verbesserung der repräsentativen Demokratie im Auge haben. Hier stellt sich Virno gemeinsam mit anderen politischen TheoretikerInnen wie Jacques Rancière, Alain Badiou, Giorgio Agamben oder Slavoj Zizek gegen die verschwiegene Vereinbarung, die sowohl theoretisch als auch praktisch real existierende liberale Demokratien als einzig mögliches Muster (auch emanzipatorischer) Politik festschreibt. Es geht Virno also mitnichten um eine Radikalisierung liberaler, repräsentativer Demokratie, sondern um das Überwinden dieses Horizonts. „Multitude“ ist in diesem Zusammenhang nicht nur der anti-identitäre Gegenbegriff des Volks, sondern auch die zentrale Kategorie für eine Abwendung vom Kampf um die Erfindung, Eroberung oder Kontrolle des bestmöglichen Staates ebenso wie für die Hinwendung zu einem nicht-repräsentationistischen Denken der Demokratie, zu einem nicht-repräsentationistischen Konzept von Politik überhaupt.

Zum anderen arbeitet Virno aber auch an einer Präzisierung jener postoperaistischen Linie, die in den letzten Jahren vor allem durch die Werke Antonio Negris und seines Ko-Autors Michael Hardt popularisiert wurde. In den Büchern der beiden Autoren ist eine Neigung zu vermerken, gerade im Fall der zentralen Begrifflichkeiten deskriptive und normative Linien zu verwischen, das Konzept der Multitude über eine zentrale Kategorie zum Verständnis des Postfordismus hinaus als hell leuchtendes Gegenbild zum dunklen Empire mit einer derartigen Emphase zu versehen, dass daraus ein neues revolutionäres Subjekt in der Nachfolge des Proletariats zu entstehen scheint.

Vor diesem Hintergrund der emphatischen Feier der Multitude bei Hardt/Negri hat Paolo Virno einen differenzierteren Begriff zu bieten. Während bei Hardt/Negri die Multitude als „singuläre Macht eines neuen Staates[6], als „biopolitische Selbstorganisation“[7], als „Klassenbegriff“[8] erscheint, pocht Virno darauf, dass der Multitude wie allen Seinsweisen die – bereits angedeutete – Ambivalenz innewohnt: „Sie enthält in sich Verlust und Rettung, Ruhe und Konflikt, Unterwerfung und Freiheit.“

Als Seite des Verlusts beschreibt Virno die zeitgenössische Ausdehnung allgemeiner Angstvorstellungen, die nicht von der Bewegung vom Volk zur Multitude zu trennen ist. Vor allem entspricht dem Fehlen jeglicher Form traditioneller oder substanzieller Gemeinschaften ein Mangel hinsichtlich der Verwaltung von absoluter Angst und infolgedessen die unbegrenzte Diffundierung existenzieller Ängste. Was substanzielle Gemeinschaften verwalten, mit Mühe und Not verhüllen, ist nämlich die Welt: die Welt, die für menschliche Wesen nicht nur Werden und Begehren bedeutet, sondern im In-der-Welt-Sein vor allem auch potenzielle Gefahr. Dieses Enthüllen der Welt zeigt sich heute ganz besonders als – bedrohliche – Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen, in denen die Unterscheidung in eine begrenzte Furcht und eine unbegrenzte Angst sich zunehmend auflöst. Risiken, Probleme, aber auch Formen der sozialen Anerkennung werden auf die „Individuen“ abgeschoben, staatliche Institutionen zur Minderung des Risikos bzw. der Lösung und Verwaltung sozialer Problemlagen werden zunehmend abgebaut oder durch private Organisationen ersetzt. Die Ausweitung des neoliberalen Verständnisses von „Eigenverantwortung“ öffnet die Perspektive auf die existenzielle Erfahrung des Lebens als Ausgesetztsein und Bedrohtsein. Gemeinsam mit der Auflösung der Differenz von konkreter Furcht (vor etwas Bestimmtem) und existenzieller Angst (die sich auf das Mögliche schlechthin bezieht) implodiert auch die Unterscheidung dieser zwei Formen der Sorge in eine öffentliche und eine private. Es entsteht eine Situation der Unsicherheit, die in krassem Gegensatz zu den neoliberalen Heilsversprechungen steht. Das negative Band der Multitude ist also jenes absolute Risiko, das aus dem Ausgesetztsein in einer unbestimmten, nicht durch konstruierte Identitäten begrenzten Welt hervorgeht, ein zweifelsohne metahistorisches Risiko, das jedoch in der historischen Phase des postfordistischen Neoliberalismus besondere Relevanz bekommt.

 

3. Neues Denken, neue Sprachen: der öffentliche Intellekt

Doch wie gesagt, die Multitude ist ambivalent – und amphibisch. Nicht nur ein negatives Band existiert, sondern auch eine positive Gemeinsamkeit der Singularitäten. In dieser Hinsicht schlägt Virno vor, die Möglichkeit der Beziehung zwischen dem Einen und den Vielen nicht a priori zurückzuweisen, sondern radikal neu zu denken. Er tut dies, indem er die Bewegung der Verengung der Vielheit auf eine Einheit (sei es die von Partei, revolutionärem Subjekt, Volk oder Staat) umkehrt und die Vielheit aus einer gleichzeitig prä- und transindividuellen Einheit erklärt. Der präindividuelle Aspekt dieser Einheit, der keineswegs naturalistisch oder essenzialistisch zu denken ist, liegt nach Virno im gemeinsamen Vermögen der Menschen, das erst die Grundlage der Individuierung darstellt: in der Sprache, im Intellekt, im Denken. Gemeinsame Teilhabe, gemeinsames Verfügen über sprachliche und kognitive Ressourcen entsprechen dem einen Zusammenhang vorbedingenden Band.

In Anklang an den Begriff des General Intellect, den Karl Marx in seinen Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie eingeführt hat, setzt Virno den Begriff des „öffentlichen Intellekts“. Die Aufnahme des Marx’schen Begriffs verweist zunächst darauf, dass „Intellekt“ hier nicht als Kompetenz eines Individuums verstanden werden soll, sondern als gemeinsames Band und immer in Entwicklung begriffene Grundlage der Individuierung. Virno spielt keinesfalls auf „öffentliche Intellektuelle“, Medien-Intellektuelle, einzelne Theorie-Stars in der Gesellschaft des Spektakels an, sondern auf die soziale Qualität des Intellekts. Denken ist hier nicht etwa bloß das Selbstgespräch einer Seele, der Höhenflug des autonomen Denkers, aber auch nicht bloßer Dialog von Auserwählten, spezifischer Diskurs von FachwissenschaftlerInnen oder mediales Raunen öffentlicher Intellektueller. Das Denken des öffentlichen Intellekts erschöpft sich nicht in einer hermetischen oder fachdialogischen Praxis, sondern entspricht einem Gemeinsam-Werden des Intellekts.

Für Virno besteht eine Analogie zwischen der Entfremdung des Denkers von der Gemeinschaft und dem Nicht-heimisch-Sein des Fremden. Während der entfremdete Denker jedoch traditionellerweise als sich vom Rauschen der Massen entfernendes Individuum gezeichnet wird, ist das Rauschen der Multitude gerade der Ort des Denkens. Es dreht sich hier – um es auf die zeitgenössische Formulierung zu bringen – nicht um den Exodus der Intellektuellen-NomadInnen, sondern umgekehrt um das DenkerInnen-Werden der Fremden. Dieses DenkerInnen-Werden entfaltet sich weniger als glorreiche Absetzbewegung der Einzelnen von der Masse, sondern eher als prekäre Notwendigkeit des Rückgriffs auf eine kollektive Form des Intellekts, auf die grundlegendsten Kategorien der Sprache und des Denkens. Hier kommt also zur präindividuellen menschlichen „Natur“, die im Sprechen, Denken, Kommunizieren liegt, der transindividuelle Aspekt des General Intellect hinzu: Es ist nicht nur die Gemeinsamkeit des vorgängig gemeinsamen Vermögens, es ist auch das Band der Vielheit, die Ströme und Fluchtlinien, die im Austausch entstehen, die Kollektivität des Singulären, das Zwischen der kognitiven ArbeiterInnen.

Und das ist schließlich auch die Linie, die Virno mit seinem italienischen Kollegen Giorgio Agamben verbindet, eine Linie, die nicht-repräsentationistische Politik, verallgemeinertes Denkvermögen und schließlich einen Begriff umfasst, der auch zu einem gemeinsamen Zeitschriftenprojekt geführt hat: Lebensformen, Lebens-Form. Nicht nur im Untertitel der Grammatik, sondern auch im Titel der Zeitschrift Forme di Vita rückt dieser Begriff explizit in den Vordergrund.[9]

Denken ist mit Agamben „das Band, das die Lebensformen in einen unauflöslichen Zusammenhang setzt, als Lebens-Form konstituiert“[10]. Das heißt, dass Denken/Intellektualität nicht als eine – abgeschottete und noch dazu privilegierte – Lebensform neben anderen gedacht werden kann, die der abgeschiedenen Klasse der DenkerInnen, sondern dass es als soziale Potenz, als Potenzialität der Gemeinsamkeit die Vielheit als Lebens-Form konstituiert.

Intellektualität wird nur soziale Potenz, wo sie nicht als ausschließendes Distinktionsmittel gebraucht wird, sondern wo sie als „gegnerische Potenz“[11] eine Erfahrung des Zusammenhalts und der Untrennbarkeit der Vermögen vermittelt. Damit zeigt sich auch, dass Virno und Agamben – im Gegensatz zu Negri etwa – die Multitude von der Mitte her denken: nicht aus der Marginalität eines vom Rand sich entwickelnden revolutionären Subjekts, sondern als Öffentlich-Werden des Intellekts.

Agamben besteht auf der Notwendigkeit, neben den bzw. gegen die Prinzipien von Staat und Repräsentation, die alle Lebensformen in ihrer Vielfalt aufgliedern und einteilen, ein Denken und eine Intellektualität zu setzen, die einen ständigen Prozess der Neuzusammensetzung fördern: „Und es ist dieses Denken, diese Lebens-Form, die – während das bloße Leben dem ‚Menschen‘ und dem ‚Bürger‘ überlassen wird, die es provisorisch überstreifen und mit ihren ‚Rechten‘ repräsentieren – Leitbegriff und einheitliches Zentrum der kommenden Politik werden muss.“[12] Und doch bleibt die Rede von einer „kommenden“ oder „neuen Politik“ in Agambens bisherigen Schriften seltsam dunkel, die „Lebens-Form“ mehr oder weniger abstrakt wie Agambens Begriffe von der „kommenden Gemeinschaft“ und der „beliebigen Singularität“ oder ähnlich negativ wie seine literarische Helden „Bartleby“ oder der „Mann vom Lande“ aus Kafkas Prozess. Die Grammatik der Multitude wirft ein genaueres Licht auf die Positivität der Multitude, indem sie die Multitude zu den Erfahrungen der postfordistischen Produktionsweisen, im Speziellen zu jenen im Kontext kognitiver und kultureller Arbeit in Beziehung setzt. Gerade durch die zeitgenössische Erfahrung der Ausweitung kognitiver Arbeit und damit einhergehend der Befragung der Sonderstellung von Intellektuellen als „öffentliche“ oder „Medien-Intellektuelle“ eröffnet sich auch ein überhistorischer Blick auf die Trennung der verschiedenen Lebensformen. Grammatik verweist hier also nicht nur auf den analytischen Aspekt, auf das Herausarbeiten von letzten Elementen und Strukturen, sondern auch auf das grundlegende Band, das die Singularitäten in ihrer Vielheit verbindet: Sprache, Denken, General Intellect. Dass dieses Band unserer jeweils konkreten Erfahrung vorgängig ist, hindert uns nicht daran, es als Bewegung der Produktion, des Werdens, der nicht-dialektischen Synthesis zu verstehen. Es gibt also nur einen zweifältigen, paradoxen Ausweg aus der Verzweiflung über den Fatalismus der Geschichte: das Studium der Grammatik und das Erfinden neuer Sprachen.[13]



[1] G. Büchner in einem Brief an seine Verlobte, vgl.: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. München: dtv 1988, S. 288.

[2] Vor allem in den von R. Panzieri herausgegebenen Quaderni Rossi.

[3] M. Tronti: Arbeiter und Kapital. Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik 1974.

[4] A. Negri: La forma stato. Per la critica dell’economia politica della costituzione. Milano: Feltrinelli 1977.

[5] Dieser Begriff wurde 1967 von S. Bologna eingeführt.

[6] M. Hardt / A. Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M. / New York: Campus 2002, S. 402.

[7] Ebd., S. 417.

[8] M. Hardt / A. Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. M. / New York: Campus 2004, S. 121.

[9] Diese Zeitschrift wurde 2004 u. a. von Agamben und Virno gegründet und vereint in ihren Ausgaben philosophische, naturwissenschaftliche und politische Analysen zu den Voraussetzungen der gegenwärtigen Produktionsordnung.

[10] G. Agamben, „Lebens-Form“. In: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg/Berlin: Diaphanes 2001, S. 17.

[11] Ebd., S. 20

[12] Ebd.

[13] Wir danken Martina Kögl und Karl Reitter für ihre wertvolle Unterstützung bei der Suche nach Originalzitaten sowie Stefan Nowotny für das genaue und kritische Lektorat des Manuskripts.